UND WARUM GEHEN EIN RISIKOFAKTOR IST
26. OKTOBER 2020
©Nicole Hacke / von Vradeto zur Vikos-Schlucht
Unser Leben ist riskant, und zwar immer dann, wenn wir uns aus unserem bequemen Sessel erheben und den ersten Schritt tun. Allein das Gehen, welches wir in jungen Jahren erst mühsam erlernen mussten, birgt eines der größten Gefahrenquellen in unserem Alltag. Und obgleich das Gehen unsere wichtigste Bewegungsressource ist und wir nicht anders können, als uns mit beiden Beinen fortzubewegen, so hängen wir doch, wenn auch nur für wenige Sekunden, mit jedem ausgeführten Schritt in der Vorwärtsbewegung einbeinig wie ein Seiltänzer in der Luft - und das solange, bis der Fuß wieder festen Halt am Boden findet.
Wären wir uns dessen bewusst, würden wir vielleicht zweimal überlegen, ob wir uns überhaupt aus den weichen Untiefen unserer äußerst komfortablen Kuschelcouch erheben sollten. Und dennoch tun wir es jeden Tag - mal mehr, mal weniger.
Als Kleinkind kam ich nur schwer auf meine zwei properen Beinchen. Vielleicht war es Faulheit, vielleicht auch das ungute Gefühl, mich auf meinen noch wackeligen Wurststampfern nicht sicher und aufrecht halten zu können, geschweige denn erfolgreich überhaupt einen Fuß vor den anderen zu setzten.
Während alle anderen Kinder in meinem Alter bereits die ersten Gehversuche unternahmen, dabei immer wieder taumelnd zu Boden fielen, voller Kampfgeist erneut aufstanden, ein paar mehr Schritte zustande brachten, bevor sie sich die Knie aufschlugen, um danach heulend von der tröstenden Mama in den Arm genommen zu werden, bevorzugte ich es mir das risikoreiche Unterfangen aus sicherer Entfernung von meiner flauschig komfortablen Krabbeldecke aus zu betrachten.
Ganz sicher war ich zu jenem Zeitpunkt weder mutig noch risikofreudig. Diese beiden Attribute hatten mir alle anderen Kinder ganz gewiss weit voraus.
©Nicole Hacke
©Nicole Hacke
©Nicole Hacke / auf dem Weg zur Vikos Schlucht
Doch ich hingegen harrte lieber auf meinem Allerwertesten aus, wippte hin und wieder im Vierfüßlerstand auf Händen und Knien vor und zurück und ließ mich nach nur wenigen Minuten gerne wieder auf meinen gut gepolsterten Kinderpopo plumpsen, nur um für den Rest des Tages gemütlich und träge das geschäftige Treiben der bewegungswilligen Kleinkindfraktion zu beobachten.
Aber irgendwann wurde diese Beschäftigung für mich extrem langweilig. Während alle anderen Kinder die Welt und ihre Abenteuer spielerisch auf zwei Beinen entdeckten, saß ich immer noch unbeweglich und wenig mobil auf der schon durchgesessenen Krabbeldecke - ausgeschlossen und isoliert von allen spaßbringenden Annehmlichkeiten.
Als ich merkte, dass ich keine andere Wahl hatte, als mich auf meine zwei unsicheren Stumpen zu erheben, wollte ich denn auch etwas erleben, nahm ich all meinen Mut zusammen, stand auf und setzte achtsam einen Schritt vor den anderen.
Von dem Tag an lief es, und zwar so gut, dass ich später beschloss, das "Gehrisiko" noch durch Wandern und Bergsteigen zu maximieren.
No risk, no fun...gerade beim Wandern! Das ist mittlerweile meine Maxime! Denn wie oft bin ich noch vor ein paar Jahren kurz vor dem erreichten Ziel resigniert umgekehrt, weil mich eine oftmals steile und abschüssige Felspassage mental daran gehindert hatte, weiterzugehen.
©Nicole Hacke / von Vradeto zur Vikos Schlucht
Dabei hatte ich immer wieder Angst vor meiner eigenen Courage und zudem gehörigen Respekt vor den Grenzen, die sich in meinem Kopf zu unverrückbaren Blockaden manifestierten. Eine Schwelle zu überschreiten, die eine Brücke zwischen dem Unmöglichen und dem Möglichen schlug, schien mir abstrus. Meine Vorstellungskraft, mich und meine Ängste mit einem positiven Mindset zu überlisten, ja, sie damit zu überwinden, wich einem negativen Glaubenssatz einfach nicht gut genug, nicht trittsicher genug, nicht alpintauglich genug zu sein.
Damit war ich nicht nur gefangen im körperlichen und geistigen Zwangskorsett meiner limitierenden Glaubenssätze, sondern verbaute mir so auch lange Zeit die uneingeschränkte Freude am Wandern und damit den Spaß am Leben und an der Freiheit.
So sicher wie das Amen in der Kirche ist Wandern, ergo das "Gehen für Fortgeschrittene" ein absolutes Risiko, denn man kann dabei leicht umknicken, sich den Knöchel verstauchen, das Bein brechen, ausrutschen, abstürzen und im schlimmsten Fall zu Tode kommen.
Schon allein bei dem Gedanken müsste man das Wandern besser sein lassen.
Nur verhält es sich so, dass das Leben an sich sowieso ein Risiko ist - und das bereits von Geburt an.
Als mir klar wurde, dass das Leben so fragil wie eine Kerze im Wind ist und die Risiken einer Wanderung im Vergleich zu Unfällen auf der Straße, im Haushalt und anderswo deutlich höher einzustufen sind als ein kalkulierbarer „Kletterakt“ auf schwindelerregende Bergeshöhen, entschloss ich mich mit meiner Angst ein für alle Mal zu brechen und die Freiheit, der ich fußläufig mit jedem Schritt näher kam, mutig zu umarmen.
©Nicole Hacke
Seitdem sind meine Grenzen weitestgehend gesprengt, meine Vorstellungskraft der Möglichkeiten und Optionen, die das Leben mir bieten, unendlich groß, mein Mut, Neues zu wagen, neue Wege zu beschreiten, Herausforderungen anzunehmen, und auch mal über dem Abgrund zu schweben ohne doppelten Boden, exponentiell gewachsen.
Ich wage und ich gewinne. Je mehr ich über meine Grenzen hinausschieße, mich über Hindernisse hinwegsetze, merke ich, wie sich unentdecktes Neuland vor mir auftut, Neuland, das erobert werden will, auch wenn es nicht immer einfach ist.
Das Wandern hat mir klar vor Augen geführt, was alles in einem steckt, welche Kräfte man in der Lage ist zu mobilisieren, wenn es darauf ankommt und wie zäh man sein kann, wenn man sein Ziel unbedingt erreichen will.
Aber man muss es tatsächlich auch wollen, denn beim Wandern trennt sich ganz eindeutig die Spreu vom Weizen. Durchhaltevermögen, Ausdauer, Hingabe und Leidenschaft, das sind alles Komponenten, die einen prädestinieren für langwierige, fordernde Etappen. Auch wenn oftmals vom Genusswandern die Rede ist, so ist Wandern und generell eine bewegungsdynamische Fortbewegung nicht immer und ausschließlich das reine Zuckerschlecken.
Vor allem ist das Gehen bei widrigen Witterungsverhältnissen über lange Streckenabschnitte, mehrere Stunden, manchmal sogar Tage mit schwerem Gepäck auf dem Rücken und gegen den eigenen Körper als Widerstand ankämpfend, eine kräftezehrende Angelegenheit, bei der Aufgeben nur dann eine Option ist, wenn der Wille nicht ausreichend stark trainiert ist.
©Nicole Hacke / von Vradeto zur Vikos Schlucht
©Nicole Hacke
Wandern ist somit insbesondere auch und vor allem eine Kopfsache, der Körper demnach nur ein fitter, konditionierter Diener der psychischen Stabilität.
Deshalb ist vielleicht das größte Risiko auf einer Wanderung die Psyche selbst, denn Kondition und Ausdauer kann man sowohl im Sportverein, beim Joggen und Spazierengehen hinreichend trainieren und ausbauen.
Doch das Durchhaltevermögen, der Biss und der unbändige Wille auch noch nach fünf Stunden permanenter auslaugend körperlicher Beanspruchung weiterzugehen, sich immer wieder selbst zu motivieren und anzutreiben, obgleich die Füße brennen, die Waden höllisch schmerzen und eigentlich alles schon total "Scheiße" ist, erfordern wahrhaft mehr als nur Sportlichkeit und Fitness.
Das Ziel, der Gipfel oder aber die 80 km Etappe werden nie erreicht, wenn das mentale Risiko zu groß ist, um überwunden zu werden.
No risk, no fun!
Wer aber einmal erlebt hat, wie erhebend es ist, seine Grenzen auszureizen, sie zu durchbrechen und dabei über sich hinauszuwachsen, der möchte es immer wieder tun.
Denn das Gefühl, diese unbändige, überbordende Freude, etwas erreicht zu haben, was anfänglich unmöglich und schier unüberwindbar erschien, ist so erhebend, dass es einen fast wie im Rausch ein bisschen beschwipst macht.
©Nicole Hacke / von Vradeto zur Vikos Schlucht
Wie erlebt Ihr das Wandern? Was bedeutet es Euch? Und kennt Ihr dieses Gefühl, über Grenzen oder an Eure Grenzen zu gehen?
Schreibt mir gerne in der Kommentarspalte, was das Wandern mit Euch tut.
Eure